Sprechstunde

Man bemerkt sie vor allem, wenn sie fehlt: Soziale Gerechtigkeit

von Prof. Dr. Matthias Quent, Gastautor
06.02.2023

Am 20. Februar ist der “World Day of Social Justice” – Anlass für uns, das Thema Soziale Gerechtigkeit bei share in den Fokus zu rücken. Denn wir wollen die Welt mit unseren Produkten jeden Tag ein Stück gerechter machen und die Auswirkungen sozialer Ungerechtigkeiten ausgleichen. Doch was genau ist Soziale Gerechtigkeit? Wo liegen die größten politischen und gesellschaftlichen Missstände und was hat die Klimakrise damit zu tun? Der Soziologe Prof. Dr. Matthias Quent hat sich dem Thema für uns als Gastautor angenommen. Er zeigt die größten Probleme auf, die Soziale Gerechtigkeit hierzulande und global behindern und erklärt, wie Gerechtigkeit machbar wird.

Stell dir vor, du nimmst an einem 800-Meter-Lauf teil: Wahrscheinlich willst du durch eine gute Leistung weit vorn mitlaufen und schnell ins Ziel kommen, denn das sind die Regeln des Sports. Du hörst überall: ‚Du kannst das aus eigener Kraft schaffen! Du allein bist deines Glückes Schmied!‘ Aber auf einmal stellst du fest: Die Läufer:innen starten nicht an der gleichen Linie: Manche starten hundert Meter vor, manche noch hinter dir. Wie sollst du den Vorsprung aufholen? Du versuchst es und kommst ganz gut voran. Dann merkst du, auf deiner Spur stehen Hindernisse, die andere nicht überwinden müssen. Am Ende fällst du zurück. Ist das gerecht? Hattest Du überhaupt eine faire Chance?

In der Gesellschaft geht es ähnlich zu. Obwohl unsere aufgeklärten und demokratischen Ansprüche Chancengleichheit und Gleichberechtigung versprechen, sind die Bedingungen für ein gutes Leben von Anfang an ungerecht verteilt. Der Zufall entscheidet, in welcher Region, in welcher Familie und sozialen Schicht, mit welcher geschlechtlichen Identität, mit welcher Hautfarbe oder mit welchen gesundheitlichen Bedingungen ein Mensch in das Leben startet. Auch später können Schicksalsschläge für Rückschläge sorgen: Unfälle, Krankheiten, Krisen, der Arbeitgeber geht pleite, Umweltkatastrophen oder gar Krieg. All das hängt nicht von der eigenen Leistung ab und es ist kein Verdienst, von Hindernissen verschont zu bleiben.

Wer viel hat, kriegt viel. Wer wenig hat, kriegt wenig

Die gute Nachricht ist: All diese Zufälle müssten nicht automatisch mit Benachteiligungen oder Privilegien (Vorrechten) einhergehen. Es gibt keinen „biologischen“ oder „natürlichen“ Automatismus, wonach Verschiedenheit zu Ungleichheit führt. Denn was uns nach unserer Geburt erwartet und passiert, ist sozial gemacht – das heißt von Menschen hervorgebracht. Es kann also auch von Menschen verändert werden. Ob eine geschlechtliche Identität, eine Hautfarbe, finanzieller Wohlstand oder Armut der Familie, eine Behinderung oder Schicksalsschläge Menschen dauerhaft zurückwerfen, liegt allein daran, wie die Gesellschaft politisch, ökonomisch und kulturell organisiert ist. Und das können wir alle ändern. Viele Hindernisse könnten aus dem Weg geräumt und das Rennen fair gestaltet werden.

Das Beispiel des 800-Meter-Laufs ist nicht nur ein Gedankenspiel, sondern immer noch soziale Realität. Eine Studie von Oxfam zeigte kürzlich, wie ungleich beispielsweise der Aufbau von Vermögen auch in Deutschland verteilt ist: Vom Vermögenszuwachs, der 2020 und 2021 in Deutschland erwirtschaftet wurde, entfielen laut der Studie 81 Prozent auf das reichste ein Prozent der Bevölkerung. Gerade mal 19 Prozent dieser Gewinne verteilen sich auf die restlichen 99 Prozent. Von Leistungsgerechtigkeit kann bei solch extremen Ungleichheiten keine Rede sein.

Ohnehin wird die Mehrheit der großen Vermögen in Deutschland nicht durch eigene Arbeit verdient, sondern geerbt. Dagegen erben Migrant:innen, Menschen aus Ostdeutschland und Kinder aus Arbeiterfamilien statistisch vergleichsweise wenig. Dadurch werden soziale Ungerechtigkeiten über Generationen betoniert und weitergegeben. Die Vermögenseliten bleiben unter sich – die Abgehängten auch. Ungleichheiten werden vererbt. Das betrifft aber nicht nur das Geld, sondern noch weitere Bedingungen, die man sich nicht aussuchen kann.

Bildung, Rassismus, Gender: es mangelt an Gerechtigkeit

Kinder von Eltern mit höheren Bildungsabschlüssen werden mit viel größerer Wahrscheinlichkeit höhere Bildungsabschlüsse erreichen als Kinder, deren Eltern weniger hohe Bildungsabschlüsse haben. Mit höherer Bildung sind in der Regel Jobs mit mehr Einkommen und Prestige verbunden. Das Potenzial zu höherer Bildung wird aber nicht biologisch, sondern sozial vererbt. Wer in eine wohlhabendere Familie geboren wird, hat bessere Bildungs- und Zukunftschancen: ein eigenes Kinderzimmer; Eltern, die Zeit haben, um sich um Hausaufgaben zu kümmern; in der Freizeit ein Musikinstrument lernen; Bücher, Tablet, PC kaufen; Nachhilfe oder gar Privatschulen; kein Druck, neben Schule und Studium noch zu jobben. Beim Bildungserfolg kommt es auf Bedingungen an, die sich Schüler:innen nicht aussuchen können.

Noch immer verdienen Frauen für die gleiche Arbeit deutlich weniger Geld als Männer. Viele Tätigkeiten, die traditionell Frauen zugeschrieben werden, werden gar nicht oder vergleichsweise schlecht bezahlt: zum Beispiel in den Bereichen von Erziehung und Pflege. Menschen, die nicht der binären Sortierung von „Mann/Frau“ zugerechnet werden können, tauchen in entsprechenden Statistiken nicht einmal auf und werden in allen möglichen Zusammenhängen unsichtbar gemacht. LGTBIQ+-Personen werden häufig diskriminiert und ausgeschlossen.

Wer von Rassismus betroffen ist, hat unter anderem auf dem Arbeits- und auf dem Wohnungsmarkt schlechtere Chancen.

Systematisch sind sogenannte Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland stärker von Ausgrenzung, Armut und Perspektivlosigkeit betroffen. Häufige Polizeikontrollen, Stigmatisierung und sogar Gewalterfahrungen können nicht nur zu Vertrauensverlusten in die Gesellschaft führen, sondern auch Frustrationen und psychische Erkrankungen befördern.

Foto: MicroStockHub

Die große Mehrheit in Deutschland sieht: es geht ungerecht zu

Soziale Gerechtigkeit heißt: Jeder Mensch hat die gleiche Chance, Fähigkeiten und Talente zu entwickeln sowie Ziele und Wünsche zu erreichen. Alle starten an der gleichen Position. Und zwar unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Geschlechtsidentität, sexueller Orientierung, Behinderungen oder Erkrankungen. Soziale Gerechtigkeit ist eine zentrale Voraussetzung für stabile und funktionierende Gesellschaften. Viele Konflikte und Probleme lassen sich daraus erklären, dass es für Anerkennung und Wohlstand auch in Deutschland immer noch wichtiger ist, in welche Familie man geboren wird, als wer man ist oder wie lang oder was man arbeitet. Gerecht ist das nicht. Das findet auch ein großer Teil der deutschen Bevölkerung. Umfragen ergeben immer wieder: Eine deutliche Mehrheit der Menschen in Deutschland ist der Meinung, dass es in Deutschland ungerecht zugeht. 

Eine vor Kurzem von der Bertelsmann Stiftung veröffentlichte Studie stellt fest, dass privilegierte Gruppen die Gesellschaft als gerechter wahrnehmen als jene, die eher unter Benachteiligungen leiden. Männer tendieren eher dazu, die Gesellschaft als gerechter einzuschätzen als Frauen, die immer noch in verschiedenen Weisen benachteiligt werden. Ältere Menschen, die beispielsweise eine höhere Verantwortung für die Klimakrise tragen als jüngere und die weniger darunter leiden werden, finden eher, dass es zwischen den Generationen gerecht zugeht als die Jüngeren. Wer sich politisch eher rechts verortet, ist eher der Meinung, dass das Vermögen in Deutschland gerecht verteilt sei.

Globale Ungerechtigkeit und die Klimakrise

Was in Deutschland gilt, trifft weltweit in noch extremerem Maße zu. Reichtum und Armut, Lebensbedingungen und Chancen sind auch extrem ungerecht zum Vorteil des globalen Nordens und zum Nachteil des globalen Südens verteilt – und zwar als Folge gewaltsamer und rassistischer Kolonialisierung. Durch die Klimakrise werden diese Ungerechtigkeiten verstärkt. Menschen, die in armen und vulnerablen Regionen leben, sind häufig besonders anfällig für die Auswirkungen des Klimawandels, zum Beispiel Wetterextreme. Sie haben weniger Mittel, um sich gegen Katastrophen zu schützen. Andererseits führen soziale Ungerechtigkeiten dazu, dass privilegierte Bevölkerungsgruppen und Regionen unverhältnismäßig hohe Treibhausgasemissionen aufweisen, die für die Erderhitzung ursächlich sind.

Viele Menschen sind von mehr als nur einer Benachteiligungsdimension betroffen – zum Beispiel als Frau, die außerdem von Rassismus betroffen und armutsgefährdet ist. Dann spricht man von Intersektionalität. Wer von intersektionaler Diskriminierung betroffen ist, muss noch mehr Hürden bewältigen und die verschiedenen Belastungen steigern sich gegenseitig.

Soziale Gerechtigkeit wird aktiv behindert

Es gibt einflussreiche Stimmen, die sich für die Bewahrung der politisch gewollten sozialen Ungerechtigkeiten und damit gegen wirksame Gegenmaßnahmen einsetzen.

Für einen Teil derjenigen, die in der Geschichte von sozialer Ungerechtigkeit profitiert haben, kann sich echte Gerechtigkeit wie eine Benachteiligung anfühlen. Am Beispiel des 800-Meter-Laufs: Wer etwa als Mann, weiße oder Person aus einer wohlhabenden Familie immer vor anderen starten konnte, kann sich von der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit bedroht fühlen. Wenn alle auf der gleichen Position in das Rennen starten könnten, würde sich womöglich zeigen, wie unverdient die eigene Stellung ist. Darum leugnen so viele Menschen ihre Privilegien oder verklären sie. Ein Teil der Gesellschaft radikalisiert sich in frauenfeindliche, rassistische und sozialdarwinistische Richtungen. Vor allem radikale Rechte blasen zum Kreuzzug gegen Diversität, „politische Korrektheit“, „Ökosozialismus“ oder „Wokeness“.

Woke, also „wach“ zu sein für die verschiedenen Formen und Ursachen sozialer Ungerechtigkeiten, ist aber eine Voraussetzung dafür, Hindernisse aus dem Weg zu räumen und gleiche Chancen und Rechte für alle Menschen zu ermöglichen – auch gegen Widerstände.

Gerechtigkeit ist machbar

Das Leid Benachteiligter ist sozial erzeugt und damit Leid, für das Gesellschaft, Politik und Wirtschaft Verantwortung tragen. Alle können etwas dafür tun, dass sich die Bedingungen durch gerechtere politische Regeln zukünftig verbessern. Davon haben alle etwas. Denn Menschen, die mit Diskriminierung konfrontiert sind, können häufig ihre Potenziale nicht voll entfalten, um sich in die Gesellschaft einbringen. Ungerechtigkeit macht krankt, begünstigt Frustrationen, Aggressionen, Gewalt, soziale Spaltung und politische Radikalisierung. Das schlechte Gewissen belastet immer mehr Menschen. Und soziale Ungerechtigkeit kostet Milliarden zusätzlich: zum Beispiel für Gesundheit, Sozialleistungen, Polizei und Justiz, die mit den Folgeschäden ungerechter Zustände umgehen müssen.

In der Geschichte wurden Fortschritte für mehr soziale Gerechtigkeit meist durch Proteste, Streiks und die Solidarität unter den Betroffenen von Ungerechtigkeiten erkämpft. Soziale Gerechtigkeit im nationalen und internationalen Kontext lässt sich nur durch verbindliche politische Regeln erreichen, die für alle gelten.

Die Unterstützung von Aktivismus und Nichtregierungsorganisationen, ein verantwortungsvoller Konsum, Courage gegen Abwertung und Diskriminierung und politische Mitbestimmung sind wichtige Schritte hin zu einer gerechteren Welt – zum Vorteil von allen.

Portrait: Sio Motion.

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